Konzept/Menschenbild der Individualpsychologie
Der Mensch ist ein einzigartiges, ganzheitliches und schöpferisches, in untrennbaren Beziehung zu andern stehendes, zielgerichtetes und Entscheidungen treffendes, selbstverantwortliches Einzelwesen.
Lebensstil = Grundmuster des Erlebens und des Verhaltens (Bewegungsgesetz, roter Faden, Strickmuster etc.)
„Nicht die Erlebnisse diktieren unsere Handlungsweisen, sondern die Schlussfolgerungen, die wir aus den Erlebnissen ziehen.“
Der Mensch entwickelt in den formativen Jahren (bis 6 Jahre) ein Lebenskonzept, um die Welt zu verstehen und seinen Platz darin zu sichern. Er bildet sich eine Meinung über sich, die Anderen, die Welt, von Frauen und Männern, wie sie sind, was sie dürfen und was nicht.
Das Kind geht dabei schöpferisch vor. Es entscheidet nicht nach objektiven Tatsachen, sondern nach seiner Wahrnehmung. Was hat ihm Erfolg gebracht und was nicht. Das bedeutet, dass auf Grund seiner Beurteilung dessen, was es mit all seinen Sinnen erfasst und den Ableitungen die es daraus trifft, sich das Kind seine Meinungen, Überzeugungen und Anschauungen bildet. Dieses Konzept behält es unerkannt bei und ist dem einzelnen als solches nicht bewusst.
Lebensstil oder individuelles Bewegungsgesetz bleiben dem Menschen ein Leben lang grundsätzlich erhalten. Ähnlich wie der Mensch „nicht aus seiner Haut kann“, ist es ihm auch nicht möglich, seinen Lebensstil abzulegen.
Holismus = Ganzheitlichkeit
Mit dem Wort Individualpsychologie wird ausgedrückt, dass der Mensch ganzheitlich zu sehen ist. Sie geht auf der einen Seite von der Unteilbarkeit des Menschen aus. Körper, Seele und Geist bilden eine Einheit und sind nicht trennbar. Das zweite Element sind seine sozialen Beziehungen, in denen sich der Mensch bewegt. Er ist ein Gemeinschaftswesen und steht in untrennbaren Beziehungen zu anderen. Beides ist miteinander in Beziehung zu stellen um den Mensch in seiner Ganzheit zu verstehen.
Dies bedeutet, dass alle Teile des Menschen wie Gewissen, Gefühle, Körper, Seele und Geist gemeinsam auf Ziele hin funktionieren. Diese Ziele haben ihre Grundlage in den persönlichen Überzeugungen, Meinungen und Ansichten dieser Person gemäss seinem Lebensstil. Hierbei können sich beispielweise der Körper und die Seele (Psyche) miteinander verbinden und psychosomatische Beschwerden erzeugen.
Zugehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftsgefühl
Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen der ohne die anderen Menschen nicht existieren kann. Nur wenn wir uns Gleichwertig fühlen können wir ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln und so unseres Platzes in der Gemeinschaft sicher sein.
Das Gemeinschaftsgefühl ist mehr als nur ein Gefühl. Es steht im direkten Zusammenhang mit dem Beitrag den wir zum Wohle der Gemeinschaft leisten. Dazu braucht es ein positives Selbstbild. Wenn wir uns Wertvoll und Dazugehörig fühlen, erweitern wir unser Gemeinschaftsgefühl. Unser Mut und Optimismus steigt.
Durch jeden Zweifel an unseren Fähigkeiten und unseren Wert verringert sich unser Gemeinschaftsgefühl und unser Minderwertigkeitsgefühl vergrössert sich. Unser positiver Beitrag nimmt ab und wir sind unseres Platzes in der Gemeinschaft nicht mehr sicher. Dadurch kann sich unser positiver Beitrag auch in einen negativen umwandeln und gegen die Gemeinschaft hinwirken.
Finalität
Die Individualpsychologie geht von der Grundannahme aus, dass alle menschlichen Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und unser Sprechen zielgerichtet sind: wir handeln um etwas zu erreichen oder zu vermeiden. Alles wird in den Dienst dieser Ziele gestellt. Sie werden unverstanden gelebt oder in einer Situation unbewusst so arrangiert, dass das Resultat, wieder den eigenen Überzeugungen im Leben entsprechen. Am Ergebnis sehen wir die wahre Absicht, die einer Handlung zugrunde liegt. Diese Grundüberzeugungen und Ansichten sind vom Menschen in den formativen Jahren zusammengestellt worden, aus dem primären Bezugssystem (Eltern, Geschwisterkonstellation, frühe Erfahrungen u.a.).
Tendenziöse Apperzeption = eigene subjektive Wahrnehmung
Jeder Mensch sieht die Umwelt aus seiner selbst geschaffenen Perspektive. Sie wirkt wie eine Brille (Filter) mit der wir durchs Leben gehen. Durch sie hindurch bewerten wir alles was wir wahrnehmen. Wir interpretieren unser Erlebtes, gemäss unserer privaten Logik so um, dass es unserem Wahrnehmungsschema entspricht. Wir provozieren/kreieren Situationen in unserem Leben, die unsere TA bestätigen oder blenden solche Informationen aus, die nicht in unsere Schema passen.
Diese Brille (Filter) wird aus Grundwerten deiner frühen Kindheit, Einstellungen, Motive, Ziele, Vorurteile und Erwartungen gebildet. Diese deine Wahrheiten bestimmen darüber, was für dich normal ist.
Nahziele (Rudolf Dreikurs)
Es sind Notlösung in einer momentaner Belastungssituation, wo aber in ihrer Wirksamkeit nicht lange anhalten. Aber dadurch können wir für einen Moment unseren Selbstwert absichern.
Das Bedeutet, dass wenn wir das Gefühl haben, dass unser Platz in der Gemeinschaft gefährdet ist oder wenn wir mit uns selber Unzufrieden sind, dann greifen wir auf Verhaltensweisen zurück, die je nach Grad des empfundenen Minderwerts, von auffälligen bis zu asozialen Handlungen gehen können.
Es sind 4 Nahziele beschrieben, die sich in ihren negativen Auswirkungen steigern. Die Grenzen können manchmal fliessend sein, so dass wir uns nicht immer sicher sind, welche es genau ist. Dabei kann uns unser empfundenes Gefühl helfen herauszufinden, auf welcher Stufe sich unser Gegenüber befindet.
Die vier Nahziele:
o Aufmerksamkeit erlangen
· Durch zu spät kommen, widersprechen, laut, auffällig, wehleidig sein, laut lachen
· Ziel: Stören, um durch die erzielte Aufmerksamkeit das Gefühl der Beachtung zu erlangen = Wiederherstellung des Selbstwertes/des eigenen Platzes
· Gefühl: der Andere fühlt sich gestört
o Macht/Überlegenheit
· durch Recht haben wollen, ins Wort fallen, Aggressionen, Jähzorn, nörgeln, Ärger etc.
· Ziel: durch Macht und Kampf dem Anderen zeigen, dass sie nicht in der Position ist um mich zu beherrschen.
· Gefühl: das Gegenüber fühlt Wut, Ärger, ist herausgefordert.
o Rache/Vergeltung
· Kaputt machen, zerstören, blamieren, davonlaufen, Schweigen, was auch immer dazu beiträgt den andern zu Verletzten.
· Dieses Ziel kommt zur Anwendung wenn man mit den beiden ersten Zielen nicht das Erhoffte erreicht hat.
· Gefühl: tief verletzt, extrem wütend
o Resignation (Rückzug)
· Rückzug in die Passivität und Teilnahmslosigkeit. Es bringt ja alles nicht, ich schaffe es nicht, meinen Platz in der Gesellschaft/Arbeit/im persönlichen Beziehungsnetz wiederzuerlangen. Solchen Menschen nehmen sich total aus dem Leben.
· Gefühl: Das Gegenüber fühlt sich hilflos, machtlos, weiss keine Lösung mehr. Man kommt nicht mehr an diese Person heran.
Auflösung und Korrektur der Nahziele
· Das unerwartete tun
· Nicht kämpfen
· Ermutigung
Minderwertigkeitsgefühl
Alfred Adler sagt: „Mensch sein heisst sich Minderwertig zu fühlen.“ Die Minderwertigkeit beginnt in der Kindheit, wenn sich das Kind mit den älteren Kindern und Erwachsenen vergleicht. Minderwertigkeitsgefühle sind die normale Reaktion auf die Feststellung, dass man nicht fähig ist, all das zu tun was die "Grossen" tun. Das Minderwertigkeitsgefühl ist das unangenehme Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit oder Unterlegenheit gegenüber anderen in einzelnen Situationen.
In Wirklichkeit entsprechen aber das Mass und die Intensität des Minderwertigkeitsgefühls keineswegs unseren wirklichen Fähigkeiten und Mängeln. Wir haben es hier mit einer subjektiven Einschätzung, einer falschen Bewertung von Tatsachen zu tun. Durch unser Menschsein sind wir per se Wertvoll, auch wenn wir fehlerhaft sind und nichts Aussergewöhnliches leisten. Wir gehören dazu!
Durch welche Umstände begeben wir uns in den Minderwert?
· Vergleichen mit anderen
· Hohe Erwartungen an sich selber stellen
· Subjektiven Fehleinschätzung seines Selbst
· Fasche Bewertung von Tatsachen
· „Selbst-Entmutigung“ durch Andere die mir ein "Angebot" machen wollen.
--> Will ich es annehmen?
Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen und befindet sich grundsätzlich mit allen Menschen auf der gleichen Ebene der Gleichwertigkeit. Wenn er jedoch beginnt die oben beschriebenen Umstände zu leben, fällt er durch seine eigene Beurteilung in seinem Wert „nach unten“, in den Minderwert. Dort will er nicht bleiben und will wieder in die Gleichwertigkeit kommen. Leider gelingt ihm dies nicht und er überkompensiert wenn er „nach oben“ will. Dadurch wertet er andere ab, will der Beste sein, Recht haben, bestimmen, angeben, verletzten, nörgeln etc.
Eine Überkompensation hat jedoch einen hohen Energieverbrauch und führt zur Ichbezogenheit. Egal wieviel Macht, Liebe, Anerkennung, Schönheit oder Bildung dieser Mensch erreicht hat in seinem Leben, er wird immer mit der Angst weiterleben, dass er, so wie er ist, nicht genügt.
Wie befreien wir uns vom Minderwertgefühl? Dies geht nur, mit dem Gefühl und dem Wissen: Durch meine blosse Existenz habe ich meinen Wert; mein Platz im Leben ist mir sicher. Wir selbst geben uns unseren Wert!
Wir müssen lernen, mit unserer Unvollkommenheit und Fehlerhaftigkeit zu leben. Dies führt zu einer angemessenen Anspruchshaltung, grössere Fehler durch kleinere zu ersetzten.
Das Minderwertigkeitsgefühl kann uns aber auch Hinweise auf berechtigte Mängel aufzeigen, die uns zum Handel anregen.